Einleitung

Eine Zusammenkunft, um konkret darüber nachzudenken, wie sich das Gesundheitssystem umgestalten lässt, dass es nachhaltig wird und die planetaren Grenzen nicht überschreitet: So lautete das Ziel des Schweizer Forums für ein nachhaltiges Gesundheitssystem, das die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) am 8. Juni 2023 im Eventforum Bern organisierte . Die Veranstaltung führte nicht nur zahlreiche Berufsfachleute, sondern auch Studierende, Persönlichkeiten aus der Politik, Verbandsvertretungen und Patientenpartner:innen für eine Diskussion über dieses Thema zusammen.

Das Gesundheitssystem, das wegen des Anstiegs der Kosten, der Anzahl Patientinnen und Patienten und der Versicherungsprämien sowie angesichts der Erwartungen an die Pflege Anlass zu grosser Sorge gibt, trägt erheblich zur Umweltkrise bei und muss deshalb überdacht werden, wie der SAMW-Präsident und ehemalige Dekan der medizinischen Fakultät der Universität Genf, Prof. Henri Bounameaux, in seiner Einleitung ausführte.

Dreifache Beobachtung: systemische Vision für ein nachhaltiges Gesundheitssystem

Abbildung 1

«Das Gesundheitssystem ist für 5 bis 8 % des CO2-Fussabdrucks der Schweiz verantwortlich. Wie beim Klima sind auch im Bereich der Pflege die verfügbaren Ressourcen nicht unendlich.» Wie lässt sich also das System so umgestalten, dass es nachhaltiger wird und die planetaren Grenzen nicht überschreitet?

Einer der Höhepunkte des Forums war die von der SAMW vorgeschlagene Gründung des Schweizer Konsortiums für nachhaltige Gesundheit und ökologischen Wandel des Gesundheitssystems1. Diese Initiative wurde in enger Zusammenarbeit mit der Plattform für Nachhaltigkeit und Gesundheit an der Fakultät für Biologie und Medizin der Universität Lausanne ergriffen und umfasst unterschiedliche Akteurinnen und Akteure des Gesundheitsbereichsa. Für Prof. Bounameaux soll das Konsortium eine bessere Koordination und Umsetzung von Massnahmen ermöglichen, die sich als wirksam erwiesen haben. «Trotz der zahlreichen dezidierten Bekenntnisse zur ökologischen Dringlichkeit sind die Initiativen noch wenig aufeinander abgestimmt und für die breite Öffentlichkeit oft unsichtbar», erklärte er in seiner Ansprache mit Bedauern. «Für die SAMW war es wichtig, mit diesem Konsortium eine Plattform zur Verfügung zu stellen, um angesichts der Dringlichkeit der ökologischen Wende gemeinsam voranzukommen.»

An der von Jean-Daniel Strub moderierten Veranstaltung mit fast 200 Teilnehmenden wurden zwei grosse Themenbereiche behandelt. Der erste umfasste die im SAMW-Positionspapier für eine umweltbewusste Gesundheitsversorgung in der Schweiz vorgeschlagenen Massnahmen und 43 innovative und kreative Projekte.
Der zweite betonte die verschiedenen Formen der Bürgerbeteiligung über generationenübergreifende Stimmen und ermöglichte einen Austausch im Rahmen einer Academic Citizens’ Assembly. Abgeschlossen wurde der Tag mit einer interaktiven Podiumsdiskussion.

1 www.assm.ch/consortium-durabilite
a Composition du Consortium (état juillet 2023) : Académie Suisse des Sciences Médicales (ASSM), Association suisse des Commissions d’éthique de la recherche (swissethics), Association Suisse des Étudiants en Médecine (swimsa), Association suisse des infirmières et infirmiers (SBK – ASI), Médecins en faveur de l’environnement (MfE), Médecine Universitaire Suisse (unimedsuisse), Santé Publique Suisse, Swiss School of Public Health (SSPH+) ; institution hôte : Office fédéral de la santé publique (OFSP).

I.SAMW-Positionspapier «Umweltbewusste Gesundheitsversorgung in der Schweiz»

«Der Klimawandel ist die grösste Bedrohung für die öffentliche Gesundheit im 21. Jahrhundert», betonte Dr. Julia Gonzalez Holguera, Koordinatorin der Plattform für Gesundheit und Nachhaltigkeit an der Fakultät für Biologie und Medizin der Universität Lausanne (UNIL). «Dennoch zählt selbst die Weltgesundheitsorganisation bei ihrer Definition von Gesundheit die Umweltfaktoren nicht zu den Determinanten von Gesundheit.» Diese Tatsache ist ein Aufruf, ein kollektives Bewusstsein zu schaffen und konkrete, kontextgerecht Massnahmen zu treffen, um einen tiefgreifenden Wandel in allen Sektoren, einschliesslich des Gesundheitswesens, herbeizuführen.

Um diesen Wandel einzuleiten, hat die SAMW 2022 ein Positionspapier mit drei strategischen Stossrichtungen veröffentlicht: Reduktion der Inanspruchnahme von medizinischen Leistungen, Anpassung der Behandlungspraxis und Verbesserung der Umwelteffizienz (siehe Abbildung 2). Dieser «Denkrahmen», der im Mai 2021 mit rund 60 Expertinnen und Experten für Gesundheit und Nachhaltigkeit in Lausanne erarbeitet wurde, ist ein erster Schritt, um unsere Arbeitsmethoden zu überdenken», sagt Prof. Nicolas Senn, Chefarzt der Abteilung für Familienmedizin bei Unisanté und zusammen mit Julia Gonzalez Co-Autor des Positionspapiers.2

Sieben konkrete Vorschläge wurden formuliert:

Reduktion der Inanspruchnahme von medizinischen Leistungen
1.  Förderung des zivilgesellschaftlichen, gemeinschaftlichen und institutionellen Engagements für einen schnelleren ökologischen Wandel in der Gesellschaft 2.  Überdenken der Definition von Gesundheit im Sinne eines umweltdeterminierten Konzepts 3. Gesellschaftliche statt (bio)medizinische Ausrichtung der Gesundheit
Anpassung der Behandlungspraxis
4.  Entwicklung eines neuen Paradigmas für eine nachhaltige Medizin und Pflege 5.  Förderung alternativer Behandlungen und Integration von Umweltfragen in die medizinische Praxis
Reduktion der Emissionen und Verbesserung der Umwelteffizienz der Gesundheitsbetriebe
6.  Verpflichtung der Gesundheitseinrichtungen zu einem soliden Nachhaltigkeitsansatz
Querschnittsmassnahme
7.  Ausbildung und Sensibilisierung der Gesundheitsfachleute für die Herausforderungen der ökologischen Nachhaltigkeit

Abbildung 3

Eine «ökologischere Gestaltung der Versorgungskette» ist gemäss Autorenteam notwendig, aber nicht ausreichend, um einen kohärenten sozio-ökologischen Wandel des Gesundheitssystems zu erreichen. Das derzeit vorherrschende, auf die Produktion von Gesundheitsdienstleistungen ausgerichtete Wirtschaftsmodell ist mit einer nachhaltigen Sichtweise unvereinbar. Deshalb ist ein umfassender Umbau notwendig, der das für die Schweiz charakteristische fragmentierte und unregulierte System berücksichtigt.

2 samw.ch/forum-nachhaltigkeit

II.43 Projekte für ein nachhaltigeres Schweizer Gesundheitssystem

Die Gesundheit des Menschen leidet zunehmend unter den Umweltschäden. Gleichzeitig trägt auch die Gesundheitsversorgung erheblich zur aktuellen Klimakrise bei. Und schliesslich stösst das Gesundheitssystem bei der Bereitstellung einer qualitativ hochwertigen, wirksamen, effizienten und gerechten Versorgung an seine Kapazitätsgrenzen. Wie lässt sich also die Gesundheitsversorgung so umgestalten, dass sie nachhaltiger wird und die planetaren Grenzen nicht überschreitet? Diese Frage stand im Zentrum der Projektausschreibung, die die SAMW im November 2022 lanciert hatte. Diese war offen für alle ehrgeizigen, innovativen und kreativen Projekte im Rahmen der sieben Vorschläge des Positionspapiers.

Auf diese Weise wurden 43 Projekte (Abbildung 4) ausgewählt und am Forum als mündliche Präsentationen und Poster vorgestellt.

Sie decken unterschiedliche Bereichen wie Medizin, Gesundheitswissenschaften, Human-, Sozial- und Umweltwissenschaften ab und können in zwei Kategorien eingeteilt werden:

Thematisch (Governance, Ausbildung und Sensibilisierung, Analyse der Umweltauswirkungen medizinischer Leistungen, Instrumente und Ressourcen)
Geografisch (lokal, kantonal, national oder international)

Interaktive Karte

Klicken Sie auf die Kreise, um mehr Projektdetails zu erfahren (auf Französich)

Légende

Instrumente und Ressourcen
Governance
Ausbildung und Sensibilisierung
Analyse der Umweltauswirkungen medizinischer Leistungen
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43

Abbildung 4

III.Generationenübergreifende Stimmen zur Gesundheitsversorgung der Zukunft

Der Umbau des Gesundheitssystems hin zu mehr Nachhaltigkeit betrifft alle Altersgruppen. Laut einer internationalen Studie3 sagen 84 % der 16- bis 25-Jährigen, sie seien wegen des Klimawandels «besorgt» oder «äusserst besorgt». Die Schweizer Klimaorganisationen zählen Aktivistinnen und Aktivisten aller Generationen zu ihren Mitgliedern. Die SAMW hatte deshalb beschlossen, am Forum junge und ältere Menschen zu Wort kommen zu lassen, die aufzeigen, wie sehr der Klimawandel ein globales gesellschaftliches Anliegen ist. Die vier Referate werden hier in Form von zwei Fragen an die Referentinnen und Referenten zusammengefasst.

84 %
der 16- bis 25-Jährigen, sagen sie seien wegen des Klimawandels «besorgt» oder «äußerst besorgt»
3 Marks, Elizabeth and Hickman, Caroline and Pihkala, Panu and Clayton, Susan and Lewandowski, Eric R. and Mayall, Elouise E. and Wray, Britt and Mellor, Catriona and van Susteren, Lise, Young People’s Voices on Climate Anxiety, Government Betrayal and Moral Injury: A Global Phenomenon. Available at SSRN: https://ssrn.com/abstract=3918955 or http://dx.doi.org/10.2139/ssrn.3918955
Dre Estelle Delamarejunge Ärztin und Nationale Koordinatorin der Planetary Health Report Card (Health For Future Genève)4

Der Zusammenhang ist ein Prozess, der in zwei Richtungen verläuft: Einerseits belastet das Gesundheitssystem die Umwelt schwer und beeinflusst damit den Klimawandel. Andererseits wirkt sich der Klimawandel auf unsere Gesundheit aus, genauso wie die anderen planetaren Grenzen, etwa die Abnahme der Biodiversität, der Süsswasserverbrauch oder die Verarmung der Böden.

Daraus ergibt sich eine grosse Ungleichheit zwischen den Ländern: Während die reichen Regionen am meisten Treibhausgase ausstossen, leiden sie paradoxerweise am wenigsten unter den Auswirkungen des Klimawandels auf ihre Gesundheit. Umgekehrt sind die armen Länder mit geringen Emissionen bereits stark vom Klimawandel betroffen.

Vor vier Jahren – im vierten Jahr meines Medizinstudiums an der Universität Genf – bin ich mir des Problems bewusst geworden. Ich war schon immer für Umweltfragen sensibilisiert und erstaunt, dass diese Themen im Studium nie angesprochen wurden. Ich erfuhr von den neusten Errungenschaften in der Neurochirurgie, der Bildgebung und der Immunologie, während die finanziellen und ökologischen Kosten dieser Technologien katastrophal sind. Es ist erstaunlich, dass Umweltfragen in der Medizin keine Rolle spielen, denn nichts ist wissenschaftlich besser belegt als die bevorstehende Katastrophe. All das kam mir absurd vor. Wie viele andere wusste aber auch ich nicht, wo und wie ich mich engagieren konnte. Deshalb erkundigte ich mich, und je mehr ich mich informierte, desto mehr merkte ich, dass die Umweltkrise vor allem eine Gesundheitskrise ist.

Da begriff ich, dass es enorm viel zu tun gibt und dass man bei null angefangen muss. Ich nahm an der Konferenz über Gesundheit und Klima 2019 in Lausanne teil, wo ich Kontakte mit anderen Studierenden knüpfte. Wir beschlossen, über die Vereinigung Health for Future ein nationales Netzwerk4 für eine bessere Umweltausbildung im Medizinstudium aufzubauen.

Anne Mahrerehemalige Nationalrätin des Kantons Genf und Co-Präsidentin der KlimaSeniorinnen Schweiz5

Dieser Gerichtshof ist die Institution, die sich auf Grundrechte spezialisiert hat, insbesondere das Recht auf Leben und das Recht auf Gesundheit . Ich glaube wirklich, dass er seine Rolle wahrnehmen und uns Recht geben wird. Dass die Hitze tötet, ist schliesslich eine Tatsache. Der Klimawandel ist ein grosses Problem für unsere Gesundheit, und zwar nicht nur für uns ältere Frauen, sondern für die ganze Bevölkerung. Deshalb erwarten wir vom Gerichtshof ein mutiges Urteil.

Bereits 2016 forderten wir von der Schweizer Regierung auf, die Schäden durch Unterlassungen im Bereich Klimaschutz zu beenden.

Alle Berichte seit der grossen Hitzewelle von 2003 zeigen, dass ältere Menschen und vor allem Frauen besonders vom Klimawandel betroffen sind.

Trotz der vorliegenden Zahlen hat der Bund unter Missachtung des Pariser Übereinkommens nicht auf unser Anliegen reagiert. Stattdessen entschied er, wir könnten für uns nicht den Status von Geschädigten in Anspruch nehmen. Ausserdem seien wir noch nicht ausreichend gesundheitlich geschädigt und da der angekündigte Temperaturanstieg von zwei Grad noch nicht erreicht sei, habe er noch Zeit, um zu handeln.

Deshalb haben wir uns entschlossen, Beschwerde beim Bundesgericht einzureichen, das leider die Haltung des Bundes stützte. Trotzdem gaben wir die Hoffnung nicht auf und zogen unsere Klage 2020 an den EGMR weiter, der unseren Antrag als «prioritär» einstufte. Am 29. März 2023 fand die öffentliche Verhandlung in Strassburg statt. An diesem historischen Tag befasste sich der Gerichtshof zum ersten Mal mit dem Thema Klima und Grundrechte. Ich erinnere mich an emotionale Momente und an die folgenden Schlussworte einer Beobachterin ans Gericht: «Nur wenige Menschen haben die Macht, den Lauf der Geschichte zu verändern. Sie haben sie.»

Maria Rosa JollerGesundheitsökonomin beim Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner (SBK-ASI)6

Das hoffe ich! Ich finde, dass das Bewusstsein dafür wächst. Als Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner ist es im Übrigen unsere Aufgabe, dieses Bewusstsein beim Pflegepersonal zu fördern. Die Klimakrise ist für uns Pflegekräfte ein wichtiges Thema, denn es ist klar: Die Klimakrise ist die grösste Bedrohung für die menschliche Gesundheit. Die Auswirkungen auf die Gesundheit der Bevölkerung sind bereits heute spürbar, zum Beispiel in Form von Hitzewellen, Stürmen, Überschwemmungen, Waldbränden oder Pandemien. In der Schweiz sind vulnerable Personen wie Kinder und betagte Menschen besonders betroffen.

Der Verband SBK-ASI zählt 26 000 Mitglieder und hat in der Schweiz einen sehr grossen politischen Einfluss im Bereich der Pflege. Unsere Hauptaufgabe besteht darin, an der Weiterentwicklung der Pflegequalität für die Bevölkerung mitzuarbeiten und die Interessen der Pflegenden zu vertreten. Angesichts der dringenden Herausforderung im Klimabereich wollen wir aber auch die Pflegefachkräfte für die Auswirkungen des Klimawandels auf die Gesundheit sensibilisieren, damit sie sich für Verbesserungen einsetzen.

Meiner Meinung nach ist die Klimakrise nicht nur eine grosse Bedrohung, sondern auch eine grosse Chance für die Menschheit. Um voranzukommen, haben wir unsere Strategie auf drei Ebenen ausgerichtet:

1. Reduktion der Treibhausgasemissionen in der Pflege (zum Beispiel durch eine Senkung der Raumtemperatur auf 21 Grad und die Einführung vegetarischer oder veganer Gerichte).

2. Überzeugungsarbeit bei unseren Patientinnen und Patienten: Die Bevölkerung vertraut uns. Wir müssen unsere Patientinnen und Patienten davon überzeugen, dass Umweltschutz auch Gesundheitsvorsorge ist.

3. Unser Engagement in der Öffentlichkeit zeigen: durch Kommunikation bei öffentlichen Veranstaltungen wie dieser oder durch die Unterstützung der Abstimmung über das Klimagesetz.

Dr René Jaccardehemaliger Facharzt für innere Medizin und Mitglied der wissenschaftlichen Kommission des Vereins Klima-Grosseltern CH7

Die Fakten sind längst bekannt. Für eine bessere Gesundheit spielen zahlreiche Faktoren eine Rolle, die sich gleichzeitig auch positiv auf das Klima auswirken: umweltbewusste Ernährung, sanfte Mobilität und saubere Luft. Darüber wird noch sehr wenig gesprochen, während der Klimawandel rasant voranschreitet. Wie der engagierte Schriftsteller Jonathan Safran Foer schreibt: «Selbst wenn die Tatsachen noch nicht überzeugend genug sind, um unser Verhalten zu ändern, können sie unseren Geist verändern, und dort müssen wir anfangen. Wir wissen, dass wir etwas unternehmen müssen, aber ‹wir müssen etwas unternehmen› ist in der Regel Ausdruck von Unvermögen oder zumindest Unsicherheit. Um zu handeln, muss man zuerst wissen, wie man sich verhalten sollte.»8

Ich habe verschiedene Vorschläge. Zunächst müssen wir alle unsere Verantwortung im Rahmen unserer Möglichkeiten wahrnehmen: Ärzteschaft, Apothekerinnen und Apotheker, Industrielle sowie Bürgerinnen und Bürger. Dann müssen wir die Mitmenschen, aber auch alle Lebewesen insgesamt respektieren, und schliesslich brauchen wir mehr Transparenz, um verantwortungsbewusst voranzuschreiten. Für Autos und Haushaltsgeräte gibt es zum Beispiel Energieetiketten mit Kategorien von A bis G. Das System ist zwar nicht perfekt, aber es liefert zumindest konkrete Informationen. Über den Arzneimittelzyklus (Herstellung, Vertrieb, Verpackung, Recycling etc.) wissen wir hingegen nichts, da es keine Transparenz gibt. Dies erschwert den dringend nötigen, umweltfreundlicheren Umgang mit Arzneimitteln.

4 Planetary Health Report Card : phreportcard.org 5 https://www.klimaseniorinnen.ch/ 6 https://sbk-asi.ch/de/ 7 https://www.klimagrosseltern.ch/ 8The Guardian https://www.theguardian.com/books/2019/sep/28/meat-of-the-matter-the-inconvenient-truth-about-what-we-eat

IV.Academic Citizens’ Assembly

«Wie können wir als Akteurinnen und Akteure des Gesundheitssystems zum Wandel beitragen?» So lautete die Frage im Mittelpunkt der im Rahmen der Academic Citizens’ Assembly organisierten Workshops.

Die auf der von Dr. Sascha Nick und seinem Team von der EPFL Business School Lausanne entwickelten Plattform The Academic Citizens’ Assembly (ACA)9 basierende Methode wurde von elf jeweils 10- bis 15-köpfigen Gruppen angewandt, die zu einem der vier grossen Themenbereiche aus dem Positionspapier der SAMW gebildet wurden:

Reduktion der Inanspruchnahme von medizinischen Leistungen

Anpassung der Behandlungspraxis

Emissionsreduktion und Effizienzsteigerung

Ausbildung der Gesundheitsfachleute

Nach einem moderierten Austausch konnte jede Gruppe Vorschläge für die Umgestaltung des Gesundheitssystems formulieren und zur Abstimmung bringen. In der letzten Phase der Workshops konnten die ca. 185 Teilnehmenden den verschiedenen Vorschlägen zustimmen oder sie ablehnen.

9 https://www.academiccitizensassembly.ch/samw-2023

Ergebnisse der Academic Citizens’ Assembly

Durch die Academic Citizens’Assembly konnten 68 Vorschläge formuliert werden, die grösstenteils übereinstimmten. Zu den allgemeinen Stossrichtungen zählten:

Die Bedeutung der Ausbildung und Sensibilisierung der Öffentlichkeit und der Fachleute

Die Notwendigkeit, das Gesundheitssystem zu vereinfachen und zu defragmentieren

Überdenken der Grenzen der Medizin und der Wahrnehmung des Todes

Abbildung 5

V.Interaktives Podium: Wie kann der Wandel gelingen?

Im Anschluss an die Diskussionen des Tages befassten sich die Podiumsgäste mit Antworten auf die Frage, welchen Herausforderungen sich das Schweizer Gesundheitssystem stellen muss, um das Ziel des Pariser Übereinkommens zu erreichen. Diese Frage beschäftigt die Gesellschaft und die Politik seit mehreren Jahren mit wachsendem Interesse. Für den sozialdemokratischen Waadtländer Nationalrat Pierre-Yves Maillard sind wir «mit einem widersprüchlichen System konfrontiert: Einerseits gibt es Anreize, so viele medizinische Eingriffe wie möglich durchzuführen, und andererseits versuchen die Kantone so gut es geht für eine gewisse Mässigung zu sorgen». Seiner Meinung nach muss der Hebel beim «Herz des Monsters» angesetzt werden, nämlich bei der – wie er es nennt – «absurden» Vergütung pro medizinische Leistung, die einen Profitwettlauf fördert. «Solange nicht alle ein Interesse an einer Veränderung haben, wird sich nichts ändern», meint er bedauernd.

«Vorankommen»

Nach vorne schauen und aus der Vergangenheit lernen: Das könnte der erste Schritt sein. «Wir müssen uns der Zukunft zuwenden und schauen, was wir tun können», sagt Prof. Frank J. Rühli, Dekan der Medizinischen Fakultät der Universität Zürich, mit Nachdruck. «Es genügt nicht, Ziele zu setzen, die wir niemals erreichen können. Wir müssen vielmehr konkrete Massnahmen ergreifen, zum Beispiel bei der Ausbildung der Studierenden.»

Angesichts der Herausforderung, vor der heute alle Akteure im Gesundheitswesen stehen, sei eine rasche Sensibilisierung nötig, betont Michael Jordi, Generalsekretär der Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und direktoren (GDK). «Wir müssen uns alle der Dimension des Themas bewusst werden und die Rolle wahrnehmen, die wir angesichts der Krise spielen können, um auf die unmittelbaren Bedürfnisse der Bevölkerung einzugehen.»

Die für den Aufbau eines nachhaltigeren Gesundheitssystems erforderliche Mässigung kann angesichts der neuen Technologien, der Übermedikalisierung und einer ständig ihre Grenzen überschreitenden medizinischen Forschung auch zu einer feindseligen Einstellung führen. «Wir dürfen weder in die Steinzeit zurückkehren noch eine Verbotskultur fördern», sagt Prof. Rühli.

«Mit gutem Beispiel vorangehen»

Alle müssen darauf achten, Doppelspurigkeiten sowie unnötige Untersuchungen und Behandlungen zu vermeiden. «In der Pflege wird dieses Thema seit vielen Jahren behandelt», erklärt Sophie Ley, Präsidentin des Schweizer Berufsverbands der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner (SBK–ASI). «Wir haben das Thema Nachhaltigkeit im Gesundheitswesen schon früh in unsere Strategie aufgenommen.» Die Initiativen der Berufsverbände aus dem Gesundheitsbereich können folglich auf nationaler Ebene Anstösse geben und für eine gemeinsame Haltung sorgen.

Das gilt für die Pflegefachkräfte wie auch für die Ärzteschaft. «Umweltthemen wie Luftverschmutzung, Lärm, Pestizide etc. sind auch in der Medizin angekommen», sagt Dr. Bernhard Aufdereggen, Präsident des Vereins Ärztinnen und Ärzte für Umweltschutz. «Ärztinnen und Ärzte haben eine Vorbildfunktion. Wir tragen eine Verantwortung und haben eine Aufgabe zu erfüllen, die nun im Rahmen der Ausbildung der künftigen Ärztinnen und Ärzte angegangen wird.»

«Paradigmenwechsel»

Massnahmen auf individueller Ebene sind gut, aber eine tiefgreifende Reform des Systems ist besser. Die Schweiz hat sich ehrgeizige Ziele gesetzt zur Reduktion der Treibhausgasemissionen: 8 % zwischen 2008 und 2012, 20 % zwischen 2013 und 2020 und 50 % zwischen 2020 und 2030.10 Um diese Ziele zu erreichen, sind umfassende Überlegungen notwendig, insbesondere im Gesundheitsbereich, der für 4 bis 6 % der Emissionen verantwortlich ist. Für Bea Albermann, Mitgründerin von Health for Future Switzerland, muss der Menschen in seiner Umwelt neu betrachtet werden. «Wir haben ein binäres System. Trotzdem gibt es andere Modelle, die nicht mehr auf dieser Trennung zwischen Mensch und Natur basieren.» Als Vorbilder nennt sie bestimmte Länder der Südhalbkugel, die bereits stark von den Folgen des Klimawandels betroffen sind und «neue Gesundheitssysteme einführen, ohne Abstriche bei der Behandlungsqualität, aber mit der zusätzlichen Möglichkeit, die Natur zu schonen.»

Dieser neue Ansatz wirft jedoch die heikle Frage nach dem wirtschaftlichen Nutzen auf. Für Sonia Roschnik, Geschäftsführerin des Geneva Sustainability Centre, müssen wir insgesamt unser Verhältnis zur Gesundheit überdenken. «Wir brauchen einen Paradigmenwechsel und müssen das Gesundheitswesen eher als ein System der Gesundheitsförderung statt der Behandlung von Krankheiten betrachten. Dazu müssen Labors, Apotheken und Kliniken ihre Gewinne als Ausdruck der erbrachten Dienstleistungen und nicht der verkauften Produkte verstehen.»

10 https://www.bafu.admin.ch/bafu/fr/home/themes/climat/dossiers/conference-paris-cop21-climat/la-suisse-reduit-les-emissions-de-gaz-a-effet-de-serre.html

Kasten Preis für das beste Abstract an die Studierenden des Projekts «Planetary Health Report Card»

Die «Planetary Health Report Card»4 wurde im Rahmen der Projektausschreibung, die im Vorfeld des Schweizer Forums für ein nachhaltiges Gesundheitssystem lanciert worden war, als bestes der 43 eingereichten Abstracts ausgezeichnet. Die Generalsekretärin der SAMW, Valérie Clerc, überreichte die Auszeichnung einer Delegation bestehend aus Angeline Buser, Medizinstudentin an der Universität Bern, Pauline Cottet, Assistenzärztin in Biel, Estelle Delamare, Assistenzärztin am Universitätsspital Genf und Regionalkoordinatorin des PHRC für die Schweiz, Michelle Fankhauser, Medizinstudentin an der Universität Zürich, und Cristian Martucci, Doktorand am Swiss Tropical and Public Health Institute in Basel. Mit diesem Instrument, das von Medizinstudierenden auf internationaler Ebene entwickelt wurde, kann das Engagement der verschiedenen Gesundheitsausbildungen im Bereich Planetary Health bewertet werden. Die Forderungen der Schweizer Studierenden sind teilweise ähnlich wie die Empfehlungen der SAMW:

Unterricht in Sachen Planetary Health

Dekarbonisierung der Aktivitäten auf dem Campus

verstärkte Zusammenarbeit mit den übrigen Einrichtungen und Ausbildungsstätten des Gesundheitsbereichs

Förderung von Planetary Health in der Gemeinschaft und der breiten Öffentlichkeit

Prof. Nicolas Senn schloss den Tag mit einem Dank an alle Teilnehmenden und für die vorgestellten Projekte ab: «Diese Veranstaltung bot zum ersten Mal in der Schweiz die Gelegenheit, alle möglichen Akteurinnen und Akteure des Gesundheitsbereichs zusammenzubringen und die ersten Grundlagen für ein neues Narrativ der Gesundheit und der Gesundheitsdienste zu schaffen, das unsere gegenseitige Verbindung mit den anderen, nicht menschlichen Lebewesen umfassend berücksichtigt. Unsere Herausforderung wird darin bestehen, den roten Faden dieses neuen Kapitels nicht zu verlieren!»

Im Laufe des Tages wurden sieben Kurzvideos mit Teilnehmenden sowie Referentinnen und Referenten des Forums aufgezeichnet.

4 Planetary Health Report Card : phreportcard.org
Weiterführende Lektüre

Nachhaltiges Gesundheitssystem in der Schweiz: Wie kann der Wandel gelingen?, Patrick Hetzel (Kinderärtze.Schweiz)

Als Follow-up ihres Positionspapiers zur umweltbewussten Gesundheitsversorgung organisierte die SAMW am 8. Juni 2023 im Eventforum Bern eine ganztägige Tagung mit dem Titel «Schweizer Forum für ein nachhaltiges Gesundheitssystem: Wie kann der Wandel gelingen?». Dabei sollten bereits bestehende Initiativen präsentiert und Anregungen für weitere Aktionen gegeben werden.

Éco-empathie, von Jean-Luc Vonnez (Revue médicale suisse)

«Wir haben beschlossen, zusammen mit zwei Praxiskollegen an dem von der SAMW am 8. Juni in Bern durchgeführten «Schweizer Forum für ein nachhaltiges Gesundheitssystem» teilzunehmen, um darüber nachzudenken, wie das von der Akademie im vergangenen Jahr veröffentlichte Positionspapier konkret umgesetzt werden kann.»

Un engagement contre le dérèglement climatique et pour la décarbonation, von Jean Martin (Le Temps)

«(...) Ein Teil des Tages war einer Academic Citizens’ Assembly gewidmet, bei der rund zehn Gruppen nach dem von Prof. Sascha Nick entwickelten Modell arbeiteten. Daraus entstanden zahlreiche Vorschläge für eine Verbesserung des Gesundheitssystems, damit dieses weniger Treibhausgase produziert.»
Zu lesen auf letemps.ch, Ausgabe vom 3. Juli 2023

Vers un réenchantement du système de santé grâce à la crise écologique ? von Anne Voeffray (Bon pour la tête)

«Boden-, Wasser- und Luftverschmutzung, Biodiversitätseinbruch, Verknappung der fossilen Ressourcen und CO2-Emissionen: Die Umweltkrise wirkt sich negativ auf alle Lebewesen, auf die Gesundheit der Menschen hier und anderswo, aus. Unser Gesundheitssystem trägt insbesondere wegen unseres übermässigen Verbrauchs von pharmazeutischen Produkten zur Umweltverschmutzung bei.»

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